Eine Branche braucht Bewegung

In Physiotherapiepraxen mangelt es an Arbeitskräften

In Physiotherapiepraxen mangelt es an Arbeitskräften. Ausgebildete Fachkräfte wandern immer häufiger ab und zugleich wird zu wenig Nachwuchs ausgebildet. Dass das wichtige Berufsfeld einer Reform bedarf, darin sind sich Angestellte und Praxisinhaber einig.

28. Februar 2022
Text: Frauke Janßen
Foto: Kay Michalak

Anja Naumann wusste schon als Kind, dass sie Physiotherapeutin werden will. Sie wuchs in Mecklenburg-Vorpommern auf und kam in einer Polyklinik der ehemaligen DDR zum ersten Mal mit dem Arbeitsfeld in Berührung. „Ich habe meinen Berufswunsch nie bereut“, erzählt die heute 44-Jährige, die als Angestellte in einer Bremer Praxis arbeitet. Fachkräfte mit einer solchen Leidenschaft werden zunehmend gesucht. Dabei bietet der Beruf mit den vielfältigen physikalischen Therapieansätzen nach wie vor das, was Anja Naumann schon immer begeisterte: „Ich helfe Menschen, mit ihren Problemen besser zurechtzukommen – das ist ein schönes Gefühl!“

Ihre Ausbildung hat sie 1996 am Bremer Lehrinstitut für Physiotherapie abgeschlossen. Inhaltlich habe sich seitdem nicht viel verändert, kritisiert Naumann die Ausbildungssituation heute. Zum Beispiel Kneipp-Güsse gehörten aus Ihrer Sicht eher in den Wellnessbereich; die Befundung von Beschwerden müsse in der Ausbildung stärker in den Fokus gerückt werden, so Naumann weiter. Schon deshalb, weil die Diagnosen auf den Rezepten, wie zum Beispiel Kniearthrose, Hals- oder Lendenwirbelsyndrom zu allgemein formuliert seien, um adäquat therapieren zu können. Das hätte zur Folge, dass zu oft passiv wie zum Beispiel mit Massagen behandelt würde, statt zielgerichteter auf das einzugehen, was der jeweilige Patient brauche, um eigenständig wieder gut funktionieren zu können. „Denn das ist ja schließlich das Ziel!“, fasst die Physiotherapeutin zusammen.

Physiotherapeutin Anja Naumann vor Bild mit vom Körper.

Physiotherapeutin Anja Naumann wünscht sich, Patienten individueller behandeln zu können: „Ich helfe Menschen, mit ihren Problemen besser zurechtzukommen – das ist ein schönes Gefühl!“

Patienten individueller behandeln und sie dazu zu ermächtigen, Beschwerden selbst in den Griff zu bekommen, wird Anja Naumann zufolge auch durch das von den Krankenkassen vorgegebene Therapieschema erschwert. Dieser Meinung ist auch Praxisinhaber Jens Uhlhorn. „Die Therapie müsste von der Zeit, dem Umfang der Behandlungen und hinsichtlich der Beratung auf die Menschen abgestimmt werden“, sagt der Praxischef, der fünf Praxen in Bremen und umzu betreibt. Grundsätzlich soll das vorgegebene Behandlungsschema Qualitätsstandards und -kontrolle ermöglichen. In der täglichen Praxis wäre mehr Handlungsspielraum wünschenswert, so Uhlhorn. Die Befürchtung, dem hohen Bedarf könnten die Praxen dann noch weniger gerecht werden, hält Uhlhorn für unberechtigt. Manche Patienten benötigen aus seiner Sicht weniger Zeit als verschrieben wurde, weil sie sich mit einer entsprechenden Beratung sehr gut selbst helfen könnten, andere wiederum könnten somit länger und besser behandelt werden – mit mehr Flexibilität eben.

„Die Therapie müsste von der Zeit, dem Umfang der Behandlungen und hinsichtlich der Beratung auf die Menschen abgestimmt werden.“
Jens Uhlhorn, Praxisinhaber

Dass es in den Praxen zu wenig Handlungsspielraum gibt, sieht Uhlhorn als einen Grund für den Fachkräfte- und Nachwuchsmangel. Ein anderer wiegt noch schwerer: „Bundesweit liegt der durchschnittliche Verdienst bei rund 2.700 Euro brutto. Der Tariflohn nach TVöD liegt im stationären Bereich, also für Physiotherapeuten, die in den Kliniken arbeiten, deutlich darüber. Um meine Angestellten angelehnt an den Tarif bezahlen zu können, müssten die Krankenkassen die entsprechenden Honorare dafür zur Verfügung stellen“, wünscht sich Praxisinhaber Jens Uhlhorn. Dem widerspricht ein Report der Barmer Ersatzkasse, demzufolge die Umsätze der Praxen zwischen 2017 und 2020 um 46 Prozent gestiegen sind, während der Durchschnittslohn der Physiotherapeuten im selben Zeitraum um nur 21 Prozent gestiegen ist.

Der Barmer-Heilmittelreport gebe unter anderem deshalb ein verzerrtes Bild wieder, weil im Pandemiejahr 2020 sozialversicherungspflichtige Gehälter durch Kurzarbeit gesenkt wurden, hält Praxischef Uhlhorn dagegen. „Es hat viel zu lange kaum Erhöhungen vonseiten der gesetzlichen Krankenkassen gegeben“, fügt Steffen Gabriel vom Verband Physikalische Therapie (VPT) hinzu. Auch wenn die Vergütung und die Gehälter schon gestiegen sind, reicht das laut VPT nicht aus, um eine Praxis wirtschaftlich führen und angemessenere Gehälter zahlen zu können, auch weil Praxisinhaber die gestiegenen Einnahmen nun auch dafür nutzen müssen, dringende Anschaffungen zu tätigen und Rücklagen für die Praxis zu bilden. Fest steht, dass die Angestellten in den Physiotherapiepraxen weniger verdienen als diejenigen, die in anderen Gesundheitsberufen beschäftigt sind.

„Es hat viel zu lange kaum Erhöhungen vonseiten der gesetzlichen Krankenkassen gegeben.“
Steffen Gabriel, Verband Physikalische Therapie

Auch Anja Naumann ist überzeugt, dass Therapeuten und Therapeutinnen besser bezahlt werden müssten. Mit rund 70 Prozent arbeiten überwiegend Frauen in dem Beruf – viele in Teilzeit. Anja Naumann mag ihren Vollzeitjob im ambulanten Bereich. Sie möchte trotz besserer Gehaltsaussichten nicht die Klinik wechseln. Aber sie wünscht sich, dass sie in Weiterbildungen – abgesehen von den Zertifikatsfortbildungen, die die Arbeitgeber finanzieren – nicht mit privater Zeit und aus eigener Tasche investieren müsste. Nur so hat sie sich nämlich auf Migräne- und Kopfschmerzpatienten spezialisieren können. Und ein neues Arbeitsfeld mit einer Vielfalt an Symptomen tut sich auf, in dem Naumann bereits eine 46-Jährige Patientin be­handelt: „Long Covid!“

Die meisten Akteure wünschen sich eine Verbesserung der Physiotherapieausbildung. Verbandsexperte Steffen Gabriel argumentiert, dass die Ausbildung zumindest dadurch attraktiver wird, dass das Schulgeld in Bremen abgeschafft wurde. „Darüber hinaus muss inhaltlich einiges erneuert werden“, so Gabriel. Zurzeit müssen ausgebildete Physiotherapeuten für bestimmte Tätigkeiten wie Manuelle Therapie oder die Lymphdrainage Weiterbildungen absolvieren. „Solche Zertifikatspositionen müssen zumindest teilweise in die Ausbildung integriert werden“, sagt der VPT-Experte.

Durch die Folgen der Pandemie wird sich der Bedarf vielleicht noch weiter erhöhen. Kai Huter, Referentin für Arbeitsschutz- und Gesundheitspolitik der Arbeitnehmerkammer Bremen, fasst zusammen: „Wir haben schon jetzt zu wenig Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen in Bremen. Die Arbeitsbedingungen sollten weiter verbessert werden, um diese auch im Beruf zu halten. Da in den nächsten Jahren viele Therapeuten altersbedingt ausscheiden werden und der Bedarf aufgrund des demografischen Wandels steigen wird, gibt es in Bremen jetzt schon zu wenig Ausbildungsplätze, um dem zukünftig noch größer werdenden Fachkräftemangel wirkungsvoll begegnen zu können.“ Umso mehr braucht der anspruchsvolle Gesundheitsberuf in Zukunft Arbeitskräfte wie Anja Naumann.